Dienstag, 15. April 2008

9. Geschenke, Tütenschleppen und eine wichtige Erkenntnis

Heute habe ich wieder eine Kiste mit Bio-Obst und -Gemüse in Empfang genommen, die direkt an unsere Haustür geliefert wird. Ich freu mich jedes Mal wie ein kleines Kind darüber. Es ist fasst so, als ob mir jede Woche ein freundlicher junger Mann ein Geschenk vorbei bringt, obwohl wir für den Service natürlich bezahlen. Wir haben lange überlegt, ob wir das Angebot nutzen wollen und waren zuerst sehr skeptisch. Denn man kann es sich leider nicht selber aussuchen, was in die Kiste kommt. Es gibt das, was eben gerade zu haben ist, heute zum Beispiel Fenchel (und Avokados, Tomaten Bananen ...) und bei dem mach ich nicht unbedingt einen freudigen Luftsprung (auch wenn ich es könnte). Aber nun, es ist bestimmt gesund. Das ganze hat übrigens den angenehmen Nebeneffekt, dass wir uns inzwischen sehr viel abwechslungsreicher ernähren und mehr kochen. Schliesslich muss das Zeug ja weg, bevor es schlecht wird.

Ausserdem ist damit auch das Einkaufen für mich sehr viel einfacher geworden. Da ich die meiste Zeit zu Hause mit Lernen verbringe, bin ich sehr viel flexibler in meiner Zeiteinteilung als mein Mann. Und da ich darüber hinaus ich ein glücklicheres Händchen bei der Auswahl von Obst und Gemüse habe (oder die bessere Nase oder was auch immer) gehe ich häufiger einkaufen als er. Das geht auch ziemlich gut, seitdem ich mein flottes Einkaufswägelchen habe, wo ich alles reinpacken kann, um es dann in aller Ruhe nach Hause zu zerren. Keine Ahnung, wie diese praktischen Dinger offiziell heissen, aber sie werden vorzugsweise von älteren Damen verwendet und haben häufig Karomuster. Meines ist übrigens rot-kariert und ich habe es von meiner Tante geerbt. Obwohl ich es wirklich schätze, hätte ich es mir NIEMALS selber gekauft. Warum? Tja, ehrlich gesagt, weiss ich es nicht. Vermutlich weil ich es so sehr mit älteren Damen verbinde. Völliger Unsinn, eigentlich. Auch wenn es nicht so viele Menschen in meiner Altersgruppe gibt, die mit Hilfsmitteln zum Einkaufen gehen und sondern lieber Tüten schleppen, bedeutet das ja nicht, dass ich das auch so machen muss. Aber der Mensch ist halt ein Herdentier - bloss nicht auffallen oder aus der Reihe tanzen. Wie wenn ich mit meiner Gehbehinderung nicht auffallen würde! Wenn ich also ohnehin auffalle, dann ist der Grund dafür ja egal. Eine ziemlich wichtige und zugleich sehr banale Erkenntnis und es hat Jahre gedauert, bis sie zu mir durchgedrungen ist. In der Zeit vor dem Wägelchen stand ich häufig vor Entscheidungen wie: „Nehm ich noch ne Milch mit oder lieber Saft? Oder schaffe ich es, beides nach Hause zu schleppen, ohne anschliessend Rückenschmerzen zu haben?“ Die Antwort war dann meistens „Stell Dich nicht so an, das wird schon gehen. Es ist ja nicht so weit“. Und dann gab es Milch und Saft und Rückenschmerzen.

Wie schön, dass diese Zeiten vorbei sind und ich niemandem mehr beweisen muss, dass ich auch Einkaufstüten schleppen kann!

Mittwoch, 9. April 2008

8. Miss Landmine

In Angola wurde vor kurzem die „Miss Landmine“ gewählt. Die glückliche Gewinnerin soll eine massangefertigte Prothese bekommen. Die anderen, „weniger Hübschen“, gehen leider leer aus.

Nein, das ist kein schlechter Scherz, auch wenn es erst mal danach klingt! Das ganze steht unter dem Motto „Alle haben das Recht, schön zu sein“ („Everybody has the right to be beautiful“).

Gibt es tatsächlich ein Recht auf Schönheit? Ich dachte immer, Schönheit läge im Auge des Betrachters.

Wie auch immer. Finanziell unterstützt wird die Aktion vom Norwegischen Kulturrad mit immerhin 500.000 Norwegischen Kronen (ungefähr 100.000 Franken), die Siegesprämie wird von einem norwegischen Hilfsmittelhersteller gestiftet, und initiiert wurde das alles von Morten Traavik, einem männlichen, weissen, unbehinderten norwegischen Künstler. Der Künstler möchte mit dem Wettbewerb auf die Konsequenzen, die der Einsatz von Landminen nach sich ziehen, aufmerksam machen und gleichzeitig den Frauen zu mehr Stolz und Selbstbewusstsein verhelfen. Ob sich diejenigen Frauen, die nicht sehr viele Stimmen bekommen haben, durch diesen Wettbewerb wirklich gestärkt fühlen, wage ich mal zu bezweifeln.

Eine Internetseite, wo man sich die Kandidatinnen anschauen kann, gibt es (natürlich) auch, allerding nur in Englisch. Einfach mal bei einer Suchmaschine die beiden Begriffe „Miss Landmine“ und „Angola“ eingeben. Tut mir leid, dass ich es so umständlich mache, aber irgendwie mag ich dazu keinen direkten Link von hier aus herstellen. Denn ich hab mit der ganzen Sache Schwierigkeiten und je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr wächst mein Widerwille.

Eigentlich finde ich alle Schönheitswettbewerbe daneben, sei es nun die Wahl der „Miss Universum“ oder die der rollstuhlfahrenden „Beauty in motion“. Aber mit einem Kunstprojekt, das von einem weissen unbehinderten Mann aus Europa organisiert wird, um scharze behinderte Frauen in Afrika auszustellen, habe ich besondere Mühe. Es wäre vermutlich ein wenig anders, wenn es die Frauen selber organisiert hätten, um auf sich und ihre Situation aufmerksam zu machen. Aber wohl nur ein wenig. Denn es gibt bessere Ideen als einen Schönheitswettbewerb zu organisieren, um auf das Problem mit Landminen und die schwierige Lebenssituation der Überlebenden aufmerksam zu machen.

Und wo bleiben die Männer, die von einer Mine verletzt wurden? Sind die nicht schön? Beschränkt sich das „Recht auf Schönheit“ nur auf Frauen?

Dienstag, 1. April 2008

7. Über Pränataldiagnostik und Auch-Menschen

Manchmal glaube ich, ich bin einfach zu langsam für diese Welt. Ab und zu habe ich das Gefühl, dass alles an mir vorbei rauscht. Und sollte ich mich mal für das eine oder andere Thema interessieren, dann bin ich oft zu spät dran, habe irgendwie den Zug verpasst. Eine gute Gelegenheit ist vorbei und ich komme mir vor, als wollte ich die Reste von vorgestern nochmal aufwärmen.

Dieses Mal habe ich zu spät mitbekommen, dass am 21. März der Welt-Down-Syndrom-Tag war. Nun ja, der Tag wurde erst 2006 ins Leben gerufen, hatte also noch keine Zeit, sich fest in meinem Bewusstsein oder dem anderer Weltbürgerinnen und -bürger zu verankern. Und eigentlich bin ich ohnehin keine allzu begeisterte Anhängerin von solchen Gedenktagen. Aber ich habe vor einiger Zeit einen Artikel in einer schwedischen Tageszeitung gelesen, der wirklich gut gepasst hätte. Vielleicht sogar besser, als irgendwelche herzigen, „integrativ“ gestalteten Gedichtvorträge oder ähnliche Veranstaltungen, die bei solchen Anlässen gerne aufgeboten werden. Nebenbei gesagt wurde ich mal darauf hingewiesen, dass die korrekte Bezeichnung der Behinderung „Trisomie 21“ laute. Der Begriff Down-Syndrom solle tunlichst vermieden werden, da der Herr Langdon Down, nach dem die Behinderung benannt wurde, die Behinderung mit Worten wie „mongoloide Idiotie“ beschrieben hat. Zu seiner Zeit waren das zwar sehr gebräuchlichen Vokabeln, aber mit der entsprechenden Begriffswahl könnte man schon signalisieren, dass man dieses Zeitalter inzwischen hinter sich gelassen hat. Der Begriff „Trisomie 21“ ist halt mit 7 Silben ein wenig lang und nicht wirklich griffig.


Wie auch immer, bevor ich jetzt auf den nächsten Welt- Down-Syndrom-Tag (Welt-Trisomie21-Tag?) warte, schreibe ich lieber trotzdem über den besagten Artikel. Gedenktage bedeuten ja gerade nicht, dass man sich nur und ausschliesslich dann mit einem bestimmten Thema befassen darf.

Der Artikel handelt von Pränataldiagnostik, genauer gesagt von der Fragwürdigkeit spezieller Tests, mit denen Embryonen auf unerwünschte genetische Merkmale, wie zum Beispiel das Down Syndrom, untersucht werden. Anlass der Veröffentlichung war die Debatte um das flächendeckende Angebot eines Kombinationstests für alle schwangeren Frauen im Gebiet Stockholms, um die für das Down Syndrom charakteristische Chromosomveränderung leichter und umfassender entdecken zu können. Verfasser des am 28.11.2007 in Schwedisch im Svenska Dagbladet erschienenen Artikels ist Svante Linusson, Professor in Mathematik und stolzer Vater einer Tochter mit Down Syndrom. Der Autor stellt die scheinbare Selbstverständlichkeit solcher Tests massiv in Frage. Das beginnt bereits mit der Überschrift, die in etwa mit „Neofaschismus betreffend Down Syndrom“ übersetzt werden könnte. Deutliche Worte, über deren Angemessenheit man durchaus streiten kann. Gleich nach der Überschrift geht es weiter mit dem Satz „Eines der Steckenpferde der „Landstingsrätin“ (in etwa: Kantonsrätin) Birgitta Rydberg ist es, unerwünschte Menschen bereits im Embryonalstadium auszusortieren“. Anschliessend zieht der Verfasser eine Parallele zu der Massenabtreibung von Mädchen in China, wo ein anderes genetisches Merkmal unerwünscht ist und eine für uns nicht nachvollziehbare systematische Abtreibung der entsprechenden Kindern nach sich zieht.

Hauptkritikpunkt des Autors ist, dass zwar allen schwangeren Frauen ein Test zur Erkennung des Down Syndroms angeboten werden soll, dass aber kaum Informationen mitgeliefert werden, was das denn eigentlich bedeutet, ein Leben mit Down Syndrom. Deshalb erwähnt er ausdrücklich, dass es heutzutage Trainingsmöglichkeiten gibt und die meisten Leute mit Down Syndrom mit ein wenig Hilfe Arbeit und eine eigene Wohnung haben können. Etwas weiter im Text erinnert er dann an die dunkle Geschichte des Faschismus in Europa, wo unerwünschte Personen aussortiert wurden und stellt anschliessend die Frage, zu welcher Gesellschaft so etwas führen wird. In einem kleinen Seitenhieb auf zentrale Befürworter des Tests weist er darauf hin, dass eine Gesellschaft, die ausschliesslich aus Chefärzten und Landstingsräten bestünde, nicht besonders gut funktionieren würde.

Eher nebenbei wird im Artikel erwähnt, dass im Gebiet Stockholms jährlich ca. 20 Kinder mit Down Syndrom geboren werden. Mit Hilfe des neuen Tests soll die Anzahl derartiger Kinder halbiert werden. Die Kosten des Tests belaufen sich auf jährlich ca. 20 Mio. schwedische Kronen (ungefähr 3,3 Mio. Franken). Das bedeutet, dass man sich die Verhinderung jedes Kindes mit Down Syndrom 2 Mio. Kronen (ca. 333.000 Franken) kosten lässt. Das veranlasst den Autor zu der Frage, ob es wirklich nichts Sinnvolleres gibt, was man mit dem Geld anfangen könnte.

Abschliessend berichtet Professor Linusson kurz, dass Psychologen bei seiner 12 Monate alten Tochter Ylva einen Entwicklungsrückstand von ca. drei Monaten festgestellt haben, und endet mit dem Satz „Aber auch ein neunmonatiges Baby ist doch einfach etwas Wundervolles!“


Der Ethikrat hat übrigens, was nicht im obigen Artikel erwähnt wurde, die Einführung des Tests als problematisch beurteilt. Zentral war hierfür die Überlegung, wie sich ein solcher allgemeiner Test auf das Leben derjenigen Menschen auswirkt, die mit Down Syndrom leben. Ein spezieller Test, der genau ein solches Leben wie das ihre verhindern soll. Auf diese Art wird den betroffenen Männern und Frauen deutlich vermittelt, dass ihr Leben vom Rest der Gesellschaft unerwünscht ist und als minderwertig angesehen wird.


Der Artikel von Svante Linusson ist zwar stellenweise etwas aggressiv geschrieben, aber ich empfinde ihn als äusserst wohltuend. Vor allem, weil er nicht auf der defensive Rechtfertigungsschiene ala „Behinderte sind auch Menschen, die ein Recht auf Leben haben“ fährt. Bei dieser ach so wohlgemeinten Argumentation kommt mir nämlich schlicht das Grausen. Warum?

1. Ich bin kein Auch-Mensch sondern eine Frau.

2. Wandeln wir den Satz einfach mal ein wenig ab und stellen uns eine Frau vor, die sagt: „Männer sind auch Menschen, die ein Recht auf Leben haben“. Klingt irgendwie nicht gut, überhaupt nicht gut. Es erweckt den Eindruck einer männerhassenden Radikalfeministin. Warum, bitte schön, hat der Satz einen so unterschiedlichen Klang, je nachdem auf welche Personen er angewendet wird?? Ja, ich weiss, es hat mit Hierarchie und Machtstrukturen zu tun. Aber warum in alles um der Welt wird diese Argumentationslinie so gerne von (scheinbaren?) Behindertenverbündeten benutzt??