Freitag, 12. September 2008

16. Ein ständiger Balanceakt

Es passiert mir immer wieder, dass ich ganz knapp die U-Bahn verpasse. Gerade gestern war so ein Tag, wo es gehäuft vorkam. Das ist eigentlich nicht weiter tragisch: Es passiert jedem mal und die nächste U-Bahn kommt 10 Minuten später. Manchmal ist es trotzdem ärgerlich. Vor allem dann, wenn Leute, die etwas schneller sind als ich, noch locker an mir vorbeirennen und mitkommen. Bei der Station, die bei mir um die Ecke liegt, weiss ich inzwischen genau, wann es sich lohnt, mich zu beeilen. Ich habs getestet. Wenn ich am Eingang der Station stehe und höre, dass die Bahn kommt, dann schaffe ich es gerade noch und kann hineinzuhuschen, bevor sich die Wagentür hinter mir schliesst. Bin ich ein paar Meter weiter weg, dann schliesst sich die Tür leider vor mir und die U-Bahn fährt ohne mich ab. Noch mehr beeilen geht nicht. Denn plötzlicher Stress kombiniert mit körperlicher Anstrengung hat meine Spastik nicht so gern. Das bedeutet, wenn ich mich allzu sehr beeile, krieg ich nen Krampf im Bein und dann geht gar nix mehr. Es gilt also die Balance zu halten.

Das grösste Problem, das ich beim U-Bahnfahren habe, sind die Höhenunterschiede, die es überall gibt und überwunden werden müssen. Ich kann Treppen rauf- oder runterklettern, wenn es sein muss. Es ist nur ziemlich mühsam und ersetzt für mich das Training in einem Fitnessstudio. Einmal täglich eine von mir auserwählte Treppe zu erklimmen reicht völlig. Wer geht schon mehrmals täglich ins Fitnessstudio?

Ich könnte natürlich auch mit dem Aufzug fahren. Aufzüge gibt es hier in Stockholm an jeder Station und sie funktionieren oft. Ich vermeiden sie gerne. Zum einen müsste ich meistens einen Umweg gehen, um dorthin zu gelangen und zum anderen sind sie unendlich langsam. Der Hauptgrund für meine Abneigung gegen Aufzüge ist jedoch, dass viele erbärmlich stinken und einfach widerlich sind. Langsam fahren UND stinken ist einfach zu viel. Zum Glück ist der Aufzug an der Station bei mir um die Ecke eine Ausnahme. Man darf zwar auch bei ihm nicht in Eile sein (d.h. die U-Bahn ist immer weg, wenn ich sie höre, auch wenn ich schon an der Kontrollschranke vorbei bin), aber er wird zumindest nicht als öffentliche Toilette missbraucht. Ich hoffe sehr, dass er auch weiterhin sauber bleibt!

Und dann gibt es auch noch an vielen Stationen Rolltreppen. Die nehme ich am Häufigsten, obwohl sie lebensgefährlich sein können. In Stockholm gibt es drei U-Bahnlinien, die untereinander liegen. Die Blaue ist die Tiefste und die Rolltreppen dort hinunter sind richtig lang. Zum Glück wohnen wir nicht an dieser Linie. Wenn ich Rolltreppe fahre, muss ich mich an dem schwarzen Band festhalten, um die Balance nicht zu verlieren. Aus irgendeinem Grund haben die Stufen und das Festhalteband selten dieselbe Geschwindigkeit. Das scheint eine Regel zu sein, die weltweit gilt. Ist die Rolltreppe kurz genug, dann geht es gerade noch, weil ich oben (oder unten) bin, bevor mich der Unterschied völlig aus dem Gleichgewicht bringt. Noch kritischer ist es, wenn das Band ein wenig ruckelt oder zwischendurch kurz anhält. Die optimale Strategien fürs sichere Rolltreppefahren hab ich noch nicht gefunden. Manchmal kann ich mich mit beiden Händen festhalten, manchmal setze ich mich auf die Stufen, aber ideal ist das alles nicht. Mit solchen Strategien lassen sich technische Mängel nur bedingt ausgleichen.

Manchmal überlege ich schon, ob es mit nem Auto nicht einfacher wäre. Aber das hat auch nicht nur Vorteile, und einen Parkplatz in der Innenstadt zu finden, ist eine Herausforderung, der ich mich nicht täglich stellen mag.

Dienstag, 2. September 2008

15. Anwältin mit Dreirad

Ich hatte kürzlich Besuch von zwei Freunden aus Deutschland. Einer hatte sein Handbike dabei, das ich bei der Gelegenheit auch mal ausprobieren durfte. Es hat richtig Spass gemacht und gab mir ein Gefühl von Freiheit! Da war für mich klar, dass ich auch ein Gerät brauche, womit ich meinen Radius erweitern und meine Fortbewegungsgeschwindigkeit etwas erhöhen kann. Statt Handbike denke ich aber eher an ein Fahrrad (auf Schweizerdeutsch: Velo). Mit diesem Gedanken spiele ich eigentlich schon seit Jahren. Aber zu einem Entschluss konnte ich mich bisher nicht durchringen. Es ist auch nicht so einfach. Denn ein Gefährt mit nur zwei Rädern hat so seine Tücken: Zum einen weiss ich nicht, ob ich wirklich die Balance halten kann. Und zum anderen fällt mir die Tretbewegung mit den Pedalen schwer. Ich rutsch immer mit dem Fuss ab - mal links, mal rechts. Das liesse sich zwar lösen, indem ich meine Füsse aufs Pedal schnalle, ähnlich wie es Radrennfahrer tun, aber dann krieg ich meinen Fuss nicht mehr raus, wenn ich die Balance verliere oder anhalten will. Und das Anfahren wird auch zum Problem. Eine andere Variante wäre ein Zweirad mit Stützrädern. Oder gleich ein Dreirad. Dann könnte ich die Tretbewegung üben und wenn es ohne Füssefestschnallen geht, kann ich mir immer noch überlegen, ob ich auf ein Zweirad umsteigen und das Balancieren üben möchte.

Ich glaube, ich weiss seit gestern, worum ich mir bisher kein Dreirad oder ein Zweirad mit Stützrädern angeschafft habe: Es sieht einfach behindert aus. Als politisch bewusste und aufgeklärte Krüppelfrau fällt es mir nicht leicht, das zuzugeben, aber es ist wohl so. Mit nem Dreirad gibt es kein Leugnen mehr, kein So-tun-als-ob-man-gar-nicht (oder nur ein bisschen) behindert wäre. Kinder und „Schwer-“behinderte sind mit nem Dreirad oder mit Stützrädern unterwegs. Da wird es von der Umgebung auch problemlos akzeptiert. Aber ich? Als ausgebildete Juristin? Der Gedanke, ich würde im Anzug mit nem Dreirad zu ner Gerichtsverhandlung fahren, während die Kolleginnen und Kollegen und womöglich die eigene Mandantin aus nem Luxusauto aussteigen, löst bei mir schon einiges an Unbehagen aus. Und gleichzeitig: Wenn ich mir eine andere Person und nicht mich selber auf dem Sattel vorstellen würde, fände ich es total klasse. Es ist ein wenig schräg und hat was. Es demonstriert eine Menge Individualität und Selbstbewusstsein.

Ach ja, eigentlich ist das hier ja ein uraltes Problem, das mich schon mein ganzes Leben lang verfolgt, immer wieder in neuen Variationen. Ich bin nicht eingeschränkt genug, und eine Sonderlösung ist nicht automatisch die einzig mögliche Lösung. Stattdessen sieht es oft so aus als ob das scheinbar Normale und vor allem Unauffälligere in greifbarer Nähe wäre. Wenn ich mich nur ein bisschen mehr anstrenge, ein bisschen mehr übe, dann wird es schon gehen. Ich habe es so satt und dachte wirklich, ich hätte diese Phase inzwischen hinter mir! Aber anscheinend muss ich mich immer noch hin und wieder selber quälen und überfordern, anstatt einfach von Anfang an zu schauen, was für mich am Besten ist. Zwei Räder sind weniger als drei, warum sollte das besser sein?

Nachdem ich endlich den Knoten gelöst und das eigentliche Problem erkannt habe, kann ich mich tatsächlich auf die Suche nach nem geeigneten Fortbewegungsmittel machen. Schon aus purem Trotz werde ich mir ein Dreirad oder ein Zweirad mit Stützrädern zulegen und damit durch die Gegend fahren! Über Tipps und Empfehlungen diesbezüglich wäre ich übrigens sehr dankbar!