Dienstag, 24. August 2010

30. Unterdrückungsmechanismen und Gegenstrategien

TEIL 1

In den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts hat Berit Ås, eine norwegische Professorin, Politikerin und Feministin fünf grundlegende Herrschaftstechniken herausgearbeitet, die einige ihrer männlichen Kollegen ihr gegenüber angewendet haben. Hat man erst einmal eine Struktur erkannt und bemerkt, dass alles nach einem ähnlichen Muster abläuft, wird es einfacher, sich dagegen zur Wehr zu setzen. Was das jetzt mit Behinderung zu tun hat? Kleinen Moment noch, dazu komme ich gleich. Wer diese Herrschaft- bzw. Unterdrückungstechniken anwendet, bringt andere Menschen in eine unterlegene Position und verstärkt gleichzeitig die eigene Dominanz. Es sind natürlich nicht nur Männer, die sich solcher Strategien bedienen, um Frauen zu unterdrücken. Das Anwendungsfeld ist sehr viel weiter und ich habe das Gefühl, dass diese Unterdrückungsmechanismen sehr häufig gegenüber Behinderten eingesetzt werden. (Damit habe ich also auch dieses Mal wieder die Kurve zum Thema Behinderung gekriegt.) Es sind sicher nur wenige, die das bewusst tun und mit der Absicht, sich selber einen Vorteil zu verschaffen. Aber auch wenn es "nur" unbewusst geschieht: Der Effekt ist derselbe. Die Person, die dem ausgesetzt wird, wird verunsichert und klein gemacht.

Als ich das erste Mal von diesen Techniken gehört habe, war ich völlig verblüfft. Ich hatte ein richtiges Aha-Erlebnis. Plötzlich habe ich so manches besser verstanden. Davor dachte ich oft: Mir passiert ständig dasselbe. Was mache ich bloss falsch? Meistens ist das ja eine berechtigte und notwendige Frage, wenn man wirklich etwas in seinem Leben verändern möchte. Aber wenn es um Situationen geht, wo ich (sei es nun bewusst oder unbewusst) Herrschaftstechniken ausgesetzt werde, denke ich inzwischen eher: Hallo! So geht das nicht. Damit kommst Du nicht durch. Mein Blickwinkel hat sich verändert. Es ist die andere Person, die sich in solchen Fällen nicht korrekt verhält und dringend etwas an ihrem Verhalten ändern sollte.

Die fünf Techniken sind übrigens:

1. Unsichtbarmachen
2. Lächerlichmachen
3. Vorenthalten von Informationen
4. Wie man es macht, es ist verkehrt
5. Beschuldigen und beschämen

Im Laufe der Zeit sind noch andere Herrschaftstechniken identifiziert worden, aber ich werde mich hier auf die ursprünglichen fünf beschränken.Wer mehr darüber wissen möchte, kann ja selbst weiterforschen.

Fünf Doktorantinnen (Diana Amnéus, Ditte Eile, Ulrika Flock, Pernilla Rosell-Steuer und Gunnel Testadder) der Universitet Stockholm haben sich Gedanken zu möglichen Gegenstrategien gemacht und einige Vorschläge erarbeitet, auf die ich kurz eingehen werde.

Weil der gesamte Beitrag wohl ziemlich lang wird, habe ich beschlossen ihn aufzuteilen. Ich lese am Bildschirm lieber etwas kürzere Texte. Die sind leichter verdaulich. Ausserdem ist es ein Trick, um mich selber zu überlisten. Denn eigentlich wollte ich schon lange über meine Entdeckung berichten, aber irgendwie war es mir bisher immer zuviel. Es ist viel einfacher, etwas Neues zu wagen, wenn man es in kleinere Zwischenschritte aufteilen kann.Und wenn man es geschafft hat, ein Zwischenziel zu erreichen, hat man auch gleich ein Erfolgserlebnis gesammelt, das zum Weitermachen motiviert.

Mein Plan sieht ungefähr so aus: Spätestens nächste Woche werde ich im Teil 2 die beiden ersten Strategien - Unsichtbarmachen und Lächerlichmachen - und mögliche Gegenstrategien beschreiben, und spätestens die Woche drauf dann in Teil 3 die verbleibenden drei Techniken. Das alles wird also relativ zeitnah geschehen, weil ich selber nicht gerne ewig auf irgendwelche Fortsetzungen warte und es deshalb auch meinen Leserinnen und Lesern nicht zumuten möchte.

Donnerstag, 19. August 2010

29. Beitragsfrequenz und Hilfsangebote

Wenn ich mir meine Beitragsfrequenz anschaue, dann müsste ich mich eigentlich jedes Mal, wenn ich etwas Neues schreibe, erst mal für mein langes Schweigen entschuldigen und mir vielleicht noch (der Höflichkeit halber) eine Ausrede dafür einfallen lassen. Allerding lese ich selbst solche Blogs nicht so gern. Spätestens nach dem 5. Mal wird es etwas einseitig. Deshalb lasse ich die Dauerentschuldigungen bleiben und warte stattdessen lieber bis mich die Muse küsst und vertraue darauf, dass meine Leserinnen und Leser Nachsicht haben und verstehen, dass sich Liebesbezeugungen nicht erzwingen lassen.

Neulich hab ich ein richtig interessantes Buch im Sperrmüll entdeckt. Es scheint auf mich gewartet zu haben, jedenfalls ist es mir sofort aufgefallen, als ich dran vorbei ging. Es hat den Titel “ok, amen” und stammt von Nina Solomin, einer jüdischen Journalistin. Die schwedische Autorin hat beinahe ein Jahr lang im New Yorker Stadtteil Williamsburg, am Rande des jüdischen Viertels gewohnt, um eine Reportage über die Chassidim (ultraorthodoxe Juden) im modernen New York zu schreiben. Sie schreibt mit einer kritischen Distanz und gleichzeitig mit viel Respekt und Liebe über die Menschen, die sie kennengelernt hat. Leider scheint es das Buch nur auf Schwedisch zu geben.

Ich finde es wichtig, von anderen zu lernen. Ich versuche oft, auch (oder gerade) das, was mir völlig fremd ist, zu verstehen und ich habe beim Lesen viel gelernt. Ich verstehe jetzt zum Beispiel eine etwas absurde Situation besser, die ich vor einigen Jahren erlebt habe: Ich bin mal in Zürich mit der Strassenbahn gefahren und haben mitangesehen, wie sich ein paar religiöse jüdische Herren unter sehr viel Stress und etwas umständlich bemüht haben, all ihr Gepäck aus der Strassenbahn zu kriegen, bevor die Bahn weiterfährt. Wir waren in einem dieser unsäglichen veralteten Modellen mit den vielen Stufen und für gewöhnlich haben es Strassenbahnen sehr eilig weiterzukommen. Die Tür ging ständig zu und die Chancen standen gut, dass sie beim nächsten Mal zu bleibt und die Bahn einfach mit einem Teil der Gruppe und einem Teil des Gepäcks weiterfährt, während der andere Teil draussen steht. Die Herren hatten sich wohl auch darauf vorbereitet und stets darauf geachtet, dass auf jeden Fall immer mindestens einer draussen und einer drinnen ist, und dann musste ja auch ständig einer auf die Haltetaste drücken, damit die Tür wieder aufgeht.... Irgendwann konnte ich es nicht mehr mitansehen und hab ihnen gesagt, dass die Tür nicht zugeht, solange einer von ihnen auf die unterste Stufe tritt. Es war deutlich zu spüren, dass sie meinen gutgemeinten Hinweis schlicht als Belästigung empfunden haben. Ich hab es trotzdem nochmal langsam und deutlich wiederholt, weil ich mir dachte, dass sie in all ihrem Stress einfach nicht die Nerven für irgendwas anderes hatten. Einer von ihnen hat zugehört und ist meinem Rat gefolgt, und damit wurde das Ausladen sehr viel entspannter. Aber keiner hat mich auch nur eines Blickes bedacht und oder sich gar bedankt. Inzwischen verstehe ich ihr Verhalten etwas besser: Als fremde Frau und in deren Augen wohl trotz langer Hosen und T-Shirt ohne Ausschnitt sehr unanständig gekleidet, war es für sie schlicht nicht möglich anders zu reagieren. Mit meinem neuen Wissen ergibt sich aber gleich eine Folgefrage: Würde ich ihnen wieder helfen? Jetzt, wo ich weiss, dass auch ein freundlicher Hinweis meinerseits aller Wahrscheinlichkeit nach als unangenehme Kontaktaufnahme aufgefasst wird. Wie es sich anfühlt, unerwünschte Hilfeleistungen, auf die man echt verzichten könnte, aufgedrängt zu bekommen, weiss ich selber nur zu gut. Wie weit sollte man gehen, um Menschen zu ihrem Glück zu zwingen? Oder am Besten gar nix tun und einfach ignorieren, weil man ja von vorneherein weiss, wie das wieder enden wird? Die sind ja eh alle gleich, das ist halt so? Wo hört Respekt auf und wo beginnen Vorurteile? Wie war das nochmal mit der Nächstenliebe? Wo genau beginnt Selbstbestimmung? “Erst fragen” ist ja normalerweise eine gute Richtlinie, aber was, wenn genau dieses Ansprechen schon problematisch sein könnte? Sollten wir nicht trotz allem immer wieder versuchen Brücken zu bauen?

Ach, ich weiss es einfach nicht. Eine eindeutige Antwort, die für alle Situationen passt, gibt es vermutlich nicht. Ich finde es jedenfalls spannend und wichtig, solche Fragen zur Abwechslung mal aus der anderen Perspektive – der der Helfenden- zu betrachten. Und ausserdem besteht ja auch noch die Hoffnung, dass sich meine Ausgangsfrage irgendwann einmal von selbst erledigt: wenn man nämlich auch mit viel Gepäck (oder Rollstuhl) problemlos in Strassenbahnen ein- und aussteigen kann.