Mittwoch, 8. Dezember 2010

34. Warum ausgerechnet ich?

Diese Frage hör ich in letzter Zeit immer wieder und ich weiss offen gestanden nicht genau, was damit eigentlich gemeint ist. "Warum?" frage ich ständig, in den unterschiedlichsten Situationen. Meistens möchte ich irgendetwas besser verstehen und/oder einen Weg finden, um Wiederholungen zu vermeiden. Aber die Frage "Warum ich?" geht in eine andere Richtung. Ich sehe die Verzweiflung, die dahinter steckt. Und den sehnlichen Wunsch, dass sich alles irgendwann als grosser Irrtum herausstellen möge. Dass einfach jemand kommt und sagt: "Verzeihung, es war ne Verwechlung, eigentlich war das klumpige und schwere Paket für jemand anderen gedacht." Aber irgendwie steckt noch mehr dahinter.

Ich habe eine Zwillingsschwester, die keine Behinderung hat. Als mich zum ersten Mal jemand gefragt hat, ob ich es ungerecht finde, dass ich ne Behinderung gekriegt hab und sie nicht, konnte ich nur verständnislos schauen. Ich war 14 und für mich war das ein völlig neuer und echt schräger Gedanke. Ich hab den Sinn bzw. die Zielrichtung dieser Frage bis heute nicht verstanden. Wäre es denn gerechter gewesen, wenn meine Schwester eine Behinderung hätte und ich nicht? Oder wenn wir beide eine bekommen hätten? Was hätte ich davon, wenn meine Schwester behindert wäre? Genau genommen habe ich ja zwei Behinderungen, das hätte sich ja auch "gerecht" verteilen lassen, oder? Aber wäre es gerecht gewesen, wenn unsere Eltern zwei behinderte Töchter gehabt hätten?

Vielleicht bin ich zu naiv, aber tief in mir steckt die Vorstellung, dass alles schon irgendeinen Sinn haben könnte, auch wenn ich ihn beim besten Willen nicht erkennen kann. Das verhindert nicht, dass ich manchmal einfach nur meine Verzweiflung in die Welt hinausschreien möchte. Da ist es vielleicht gar nicht so weit zu der Frage: "Wieso lädst du den Mist ausgerechnet bei mir ab? Ich will ihn nicht haben, nimm ihn wieder mit."

Es verbirgt sich wohl auch das Gefühl der Machtlosigkeit hinter der Frage, die mich im Moment so beschäftigt. - Warum habe ich das nicht unter Kontrolle? Habe ich etwas falsch gemacht? Die Erkenntnis, dass man sein Leben nicht völlig unter Kontrolle hat, ist schwer auszuhalten. Vor allem dann, wenn für das, was geschieht, keine einigermassen einleuchtende Erklärung erkennbar ist. Ich glaub, manche Sachen kann man nicht erklären, sie geschehen einfach. Jedenfalls gibt es für mich so vieles, das weit ausserhalb meines Vorstellungsvermögens liegt. Aber ich glaube nicht, dass die Welt besser wäre, wenn sich alles im voraus berechnen und planen liesse und wir Menschen alles beherrschen könnten. Mir würden die unerwarteten Entdeckungen, die wunderbaren spontanen Begegnungen und Gespräche mit anderen Menschen und vor allem die täglichen Wunder des Lebens fehlen.

Freitag, 3. Dezember 2010

33. Zauberhaftes Märchenland

Seit einigen Tagen ist es bei uns arschkalt und ordentlich geschneit hat es auch. Es liegen mindestens 10 cm Schnee und ich überlege ernsthaft, ob ich meine himmelblaue Thermohose rausholen soll. Meine Spastik findet die Kälte gar nicht lustig. Das bedeutet, dass sich meine Muskeln verkrampfen und ich im Moment ziemlich steif bin. Gleichzeitig ist es einfach schön, wenn alle Bäume weiss gepudert sind. In der Dämmerung kommt es mir vor als wäre ich in eine verzauberte Märchenlandschaft eingetaucht. Es hat etwas Unwirkliches, Traumhaftes - zumindest so lange bis ich an der Kläranlage vorbeikomme. Dann drängt sich die unangenehme Seite der Realität wieder auf. Ungefähr so fühlt sich mein Leben gerade an. Es gibt so vieles, was sich kaum miteinander vereinbaren lässt. Und so stapfe ich halt täglich über Eis und Schnee, versuche mich warmzuhalten und freue mich über den funkelnden Schnee.