Freitag, 24. August 2012

48. Verkehrte Welt

Vor ein paar Tagen hab ich ein kurzes aber sehr interessantes Interview gelesen, in dem eine schwedische Frau, Camilla Alexandersson, über ihr Leben erzählt. Sie ist lesbisch und hat eine seit ihrer Kindheit eine nicht-sichtbare Behinderung, Rheuma. Es gab eine Zeit, da war sie als Punkerin unterwegs und hat sich bewusst gegen gesellschaftliche Normen aufgelehnt. Das, was mich an ihrer Schilderung am meisten fasziniert und zum Nachdenken gebracht hat, war, dass es für sie viel einfacher war, sich als Lesbe zu outen als sich offen zu ihrer Behinderung zu bekennen. Selbst als Punkerin gab es gesellschaftliche Normen, gegen die sie nicht ankämpfen wollte oder konnte.

Vergleiche sind häufig problematisch und ich weiss nicht, ob es wirklich Sinn macht sich zu fragen, was am Schwersten ist. Camillas Erfahrungen lassen sich sicher nicht ohne weiteres auf alle Länder übertragen. Es gibt nach wie vor Staaten, in denen homosexuelle Handlungen strafrechtlich verfolgt werden. Und auch die Ansicht, es wäre eine Krankheit, wenn sich Frauen in Frauen und Männer in Männer verlieben, ist immer noch erstaunlich weit verbreitet. Trotzdem find ich Camillas Ausgangspunkt interessant und ich hab den Verdacht, dass es zumindest in einigen westlichen Ländern leichter sein könnte, offen zu erklären, dass man lesbisch ist als zuzugeben, behindert zu sein.

Wie schwierig es sein kann, sich offen zu seiner Behinderung zu bekennen, weiss ich aus eigener Erfahrung nur zu gut. Meine Behinderung fällt nicht besonders auf, wenn ich sitze und es passiert mir recht häufig, dass Leute etwas erstaunt schauen, wenn ich irgendwann, z.B. im Bus, aufstehe und sie sehen, dass ich behindert bin. In Schweden fangen sich die Leute ziemlich schnell wieder. Aber in Deutschland und in der Schweiz hat meine Position ziemlichen Einfluss auf das Verhalten meiner Mitmenschen. Es ist ein wenig absurd, aber die Leute behandeln mich anders wenn ich sitze als wenn ich gehe. Wenn ich sitze, dann können sie meine Behinderung vergessen, auch wenn sie wissen, dass ich eine habe. Wenn ich gehe, dann lässt sich meine Behinderung nicht ignorieren. Das gilt sogar, wenn es dieselben Gesprächspartnern sind: Solange wir sitzen kann ich mich mit Leuten völlig normal unterhalten und wenn wir dann aufstehen und ein Stück gehen, dann steht da plötzlich eine grosse Unsicherheit zwischen uns und wir fangen fast automatisch an, uns über Behinderung zu unterhalten, egal worüber wir vorher geredet haben. Als Jugendliche hat mich das richtig gestresst. Ich war immer so froh, wenn ich schon sass, bevor ich jemanden kennenlernte. Dann konnten wir uns richtig gut unterhalten, vielleicht ein wenig flirten... Wir waren gleichberechtigte Gesprächspartner, zumindest eine Weile lang. Irgendwann kam (fast) immer der Zeitpunkt, an dem ich es nicht mehr länger ausgehalten hab und auf Toilette musste und danach war der Zauber vorbei. Dann war ich entweder die Arme, die es so schwer hat, oder die Heldin, die trotz ihrer Behinderung so viel leistet oder ich war plötzlich völlig uninteressant. Ich wurde zu einer anderen Person gemacht und der abrupte Wechsel war wirklich anstrengend und tat weh. Ich hab lange gebraucht, bis ich begriffen hatte, dass das Problem nicht bei mir liegt sondern bei meinem Gegenüber. Inzwischen hab ich genügend Selbstvertrauen und kann mit solchen Situationen anders umgehen. Manchmal nervt es und manchmal kann ich verständnisvoll darüber lächeln. Aber ich sitze nicht mehr da und überleg mir, ob ich es nicht doch noch etwas länger rauszögern kann, bevor ich aufstehen muss.

Mittwoch, 15. August 2012

47. Eine erfreuliche Entdeckung

Mein Mann und ich haben vor ein paar Wochen eine wunderschoene Entdeckung gemacht: Zum ersten Mal seit wir in Stockholm wohnen (also nach über fünf Jahren!), haben wir hier im Wald reichlich Heidelbeeren, Himbeeren und Pfifferlinge gesammelt! Ich bin immer noch völlig begeistert. Stockholm ist einfach wunderbar: Ich bin zu Fuss in fünf Minuten bei der U-Bahn, in 10 Minuten beim Supermarkt und mit meinem Dreirad bin ich in 10 Minuten im Wald. Besser kann man fast nicht wohnen. Vororte haben eindeutig ihre Vorteile, auch wenn die meisten Schweden lieber zentral, d.h. mitten in der Stadt wohnen.

Inzwischen hab ich einige Stunden meines Lebens damit verbracht durch den Wald zu kriechen und Beeren zu pflücken. Die Sammeltechnik hab ich von meinem Schwiegervater gelernt, der auch Probleme mit dem Rücken hat. Die meisten Menschen stehen gebückt während sie sammeln, aber mit dieser Methode streikt bei mir nach spätestens fünf Minuten der Rücken. Es ist viel praktischer und wesentlich rückenfreundlicher, wenn man sich vor den Beeren auf den Boden setzt. Und wenn man ein Stück Isomatte dabei hat, ist es auch nicht so hart.

Ich freu mich wie ein Kind ueber unsere selbst gesammelten Schätze, die langsam unseren Gefrierschrank füllen!