Freitag, 15. Februar 2008

2. Stolpern, Therapien und eine Notärztin

Erst kürzlich bin ich beim Zeitunglesen über einen interessanten Artikel gestolpert. Ich stolper eigentlich recht häufig in meinem Leben. Über dieses oder jenes, hin und wieder auch beim Gehen - aber dazu vielleicht ein anderes Mal. Der besagte Artikel jedenfalls ist mir sofort aufgefallen, vermutlich wegen der Überschrift „Entgegen aller Erwartungen“ (etwas frei übersetzt). Ich hab’s gern, wenn jemand einfach seinen oder ihren Weg geht und etwas schafft, obwohl niemand daran geglaubt hat. Aber es kommt noch besser!

Der Artikel berichtet in einer äusserst angenehmen Weise und ganz ohne Rührseligkeit über das Leben der Victoria Webster, einer Notärztin mit Cerebralparese. Nachzulesen ist er übrigens in Schwedisch in den „Dagens Nyheter“ vom 27.01.2008.

Erst nach einem kurzen Situationsbericht über die Notaufnahme mit Frau Webster als zentraler Figur wird kurz auf die Behinderung eingegangen: Ein Sauerstoffmangel während der Geburt, der zur Folge hat, dass sie langsam redet, dass ihre Muskeln im Gesicht manchmal ein bisschen machen, was sie wollen, und dass sie ein wenig wie auf Stelzen geht.

Anfangs war ich etwas misstrauisch und hab befürchtet, dass sich hinter der schönen Überschrift und dem vielversprechenden Anfang doch wieder nur eine Heidi-Geschichte verbirgt. Immer nach demselben Muster: Person lässt sich nicht von ihrer Behinderung kleinkriegen, sondern kämpft mit allen Mitteln, die die moderne Medizin und unzählige Therapien bieten, dagegen an. Person gewinnt den Kampf dank hartnäckiger Selbstquälerei und unerschütterlichem Lebensmut und mutiert zum Schluss zu einem vollwertigen Mitglied der Gesellschaft.

Ich weiss, ich bin manchmal etwas zynisch. Aber wäre es nicht schöner, wenn man auch mit Behinderung einfach nur leben dürfte, ohne Therapie- oder Normalisierungszwang? Wer mag, macht die Therapie, die Besserung verspricht. Und wer nicht mag, lässt es eben bleiben. Kein Zwang, kein Druck, keine Quälerei. Ich hab übrigens absolut nichts gegen medizinische Fortschritte oder Therapien. Jedenfalls nicht prinzipiell und nicht, solange diese sinn- und massvoll eingesetzt werden und den davon Betroffenen gut tun. Und genau da liegt oft der Haken. In meinem Bekanntenkreis gibt es nur wenig Leute mit Behinderung, die zum Thema Therapie nicht zumindest eine Gruselgeschichte erzählen können.

Aber ich schweife ab. Eigentlich wollte ich ja von der behinderten Notärztin Victoria Webster berichten. Sie erzählt in dem Artikel über ihren Kampf, den sie ausfechten musste, bis sie sich endlich ihren Traum erfüllen konnte und Ärztin wurde. Aber den Kampf führte sie nicht gegen sich selbst und gegen ihren Körper. Stattdessen erzählt sie, wie sie bereits nach drei Tagen Studium bei der Kursleiterin vorsprechen musste, die ihr nahelegte, das Studium doch abzubrechen und den Platz für jemand anderen freizugeben, da ja später sowieso kein Patient von ihr behandelt werden wolle. Ausserdem durfte sich Frau Webster noch anhören, dass es aber gut war, dass sie zur Ausbildung zugelassen wurde, weil sich damit gezeigt habe, dass etwas mit dem Zulassungssystem falsch sei. Frau Webster ist dem gutgemeinten Rat jedoch nicht gefolgt, sondern hat die Zähne zusammengebissen und weitergemacht, auch als noch andere Lehrer versucht haben, sie zum Aufgeben zu bewegen. Später als Ärztin wurde sie, wie erwartet, auch mit negativen Reaktionen von Patienten konfrontiert. Aber das ist, so erzählt sie, nicht mehr vorgekommen, seitdem sie sich ungefähr wie folgt vorstellt: „Guten Tag, ich heisse Victoria Webster und habe eine angeborene Behinderung. Ich hoffe, das stört nicht. Erzählen Sie mir doch bitte, warum Sie hier sind“

Und das i-Tüpfelchen der Geschichte: Im ganzen Artikel wird das Wort Lebensfreude nicht ein einziges Mal erwähnt!

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