Donnerstag, 19. August 2010

29. Beitragsfrequenz und Hilfsangebote

Wenn ich mir meine Beitragsfrequenz anschaue, dann müsste ich mich eigentlich jedes Mal, wenn ich etwas Neues schreibe, erst mal für mein langes Schweigen entschuldigen und mir vielleicht noch (der Höflichkeit halber) eine Ausrede dafür einfallen lassen. Allerding lese ich selbst solche Blogs nicht so gern. Spätestens nach dem 5. Mal wird es etwas einseitig. Deshalb lasse ich die Dauerentschuldigungen bleiben und warte stattdessen lieber bis mich die Muse küsst und vertraue darauf, dass meine Leserinnen und Leser Nachsicht haben und verstehen, dass sich Liebesbezeugungen nicht erzwingen lassen.

Neulich hab ich ein richtig interessantes Buch im Sperrmüll entdeckt. Es scheint auf mich gewartet zu haben, jedenfalls ist es mir sofort aufgefallen, als ich dran vorbei ging. Es hat den Titel “ok, amen” und stammt von Nina Solomin, einer jüdischen Journalistin. Die schwedische Autorin hat beinahe ein Jahr lang im New Yorker Stadtteil Williamsburg, am Rande des jüdischen Viertels gewohnt, um eine Reportage über die Chassidim (ultraorthodoxe Juden) im modernen New York zu schreiben. Sie schreibt mit einer kritischen Distanz und gleichzeitig mit viel Respekt und Liebe über die Menschen, die sie kennengelernt hat. Leider scheint es das Buch nur auf Schwedisch zu geben.

Ich finde es wichtig, von anderen zu lernen. Ich versuche oft, auch (oder gerade) das, was mir völlig fremd ist, zu verstehen und ich habe beim Lesen viel gelernt. Ich verstehe jetzt zum Beispiel eine etwas absurde Situation besser, die ich vor einigen Jahren erlebt habe: Ich bin mal in Zürich mit der Strassenbahn gefahren und haben mitangesehen, wie sich ein paar religiöse jüdische Herren unter sehr viel Stress und etwas umständlich bemüht haben, all ihr Gepäck aus der Strassenbahn zu kriegen, bevor die Bahn weiterfährt. Wir waren in einem dieser unsäglichen veralteten Modellen mit den vielen Stufen und für gewöhnlich haben es Strassenbahnen sehr eilig weiterzukommen. Die Tür ging ständig zu und die Chancen standen gut, dass sie beim nächsten Mal zu bleibt und die Bahn einfach mit einem Teil der Gruppe und einem Teil des Gepäcks weiterfährt, während der andere Teil draussen steht. Die Herren hatten sich wohl auch darauf vorbereitet und stets darauf geachtet, dass auf jeden Fall immer mindestens einer draussen und einer drinnen ist, und dann musste ja auch ständig einer auf die Haltetaste drücken, damit die Tür wieder aufgeht.... Irgendwann konnte ich es nicht mehr mitansehen und hab ihnen gesagt, dass die Tür nicht zugeht, solange einer von ihnen auf die unterste Stufe tritt. Es war deutlich zu spüren, dass sie meinen gutgemeinten Hinweis schlicht als Belästigung empfunden haben. Ich hab es trotzdem nochmal langsam und deutlich wiederholt, weil ich mir dachte, dass sie in all ihrem Stress einfach nicht die Nerven für irgendwas anderes hatten. Einer von ihnen hat zugehört und ist meinem Rat gefolgt, und damit wurde das Ausladen sehr viel entspannter. Aber keiner hat mich auch nur eines Blickes bedacht und oder sich gar bedankt. Inzwischen verstehe ich ihr Verhalten etwas besser: Als fremde Frau und in deren Augen wohl trotz langer Hosen und T-Shirt ohne Ausschnitt sehr unanständig gekleidet, war es für sie schlicht nicht möglich anders zu reagieren. Mit meinem neuen Wissen ergibt sich aber gleich eine Folgefrage: Würde ich ihnen wieder helfen? Jetzt, wo ich weiss, dass auch ein freundlicher Hinweis meinerseits aller Wahrscheinlichkeit nach als unangenehme Kontaktaufnahme aufgefasst wird. Wie es sich anfühlt, unerwünschte Hilfeleistungen, auf die man echt verzichten könnte, aufgedrängt zu bekommen, weiss ich selber nur zu gut. Wie weit sollte man gehen, um Menschen zu ihrem Glück zu zwingen? Oder am Besten gar nix tun und einfach ignorieren, weil man ja von vorneherein weiss, wie das wieder enden wird? Die sind ja eh alle gleich, das ist halt so? Wo hört Respekt auf und wo beginnen Vorurteile? Wie war das nochmal mit der Nächstenliebe? Wo genau beginnt Selbstbestimmung? “Erst fragen” ist ja normalerweise eine gute Richtlinie, aber was, wenn genau dieses Ansprechen schon problematisch sein könnte? Sollten wir nicht trotz allem immer wieder versuchen Brücken zu bauen?

Ach, ich weiss es einfach nicht. Eine eindeutige Antwort, die für alle Situationen passt, gibt es vermutlich nicht. Ich finde es jedenfalls spannend und wichtig, solche Fragen zur Abwechslung mal aus der anderen Perspektive – der der Helfenden- zu betrachten. Und ausserdem besteht ja auch noch die Hoffnung, dass sich meine Ausgangsfrage irgendwann einmal von selbst erledigt: wenn man nämlich auch mit viel Gepäck (oder Rollstuhl) problemlos in Strassenbahnen ein- und aussteigen kann.

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