Samstag, 18. September 2010

32. Unterdrückungsmechanismen & Gegenstrategien

TEIL 3

Jetzt ist doch wieder mehr Zeit vergangen als ich gedacht habe. Dabei war ich mir so sicher, dass es mir gelingen würde, mich selber zu überlisten. Nunja, hier kommt also endlich der dritte und letzte Teil zum Thema. Für alle, die erst hier anfangen zu lesen, würde ich empfehlen, die Teile 1 und 2 zumindest zu überfliegen.


3. Vorenthalten von Informationen

Stellen wir uns ein Gremium vor, das Entscheidungen treffen soll. Vor einer offiziellen Sitzung kriegen alle ein Paket mit schriftlichen Informationen zugeschickt. Alle bis auf ein Gremiumsmitglied treffen sich ein paar Tage vor der Sitzung und tauschen Informationen aus, ohne dass dieses Mitglied etwas davon weiss. Die Person, die zu dem inoffiziellen Treffen nicht eingeladen war, kann sich noch so gut auf die Sitzung vorbereiten, ihr werden trotzdem wichtige Informationen fehlen. Da kann es leicht passieren, dass sie was sagt oder Vorschläge macht, die für alle anderen offensichtlich unangebracht sind und sie dasteht, als ob sie von der Sache schlicht keine Ahnung hat. Das Beispiel ist vielleicht ein wenig überzogen, aber es passiert ziemlich häufig, dass nicht alle Beteiligten alle Informationen bekommen. Und wenn es um Leute mit Behinderung geht, dann scheint es sehr üblich zu sein, dass sich Eltern, Therapeuten, Ärzte, Lehrer und ich weiss nicht, wer noch so alles über ihre behinderten "Schützlinge" unterhalten und Informationen untereinander austauschen, ohne dass die Hauptperson, um die es bei diesen Gesprächen geht, eingebunden wird. Wird der Behinderte dann doch mal um seine Meinung gefragt, dann fehlen ihm häufig wichtige Informationen, um wirklich mitreden zu können. Ihm geht es ähnlich wie der Person, die nicht zu dem inoffiziellen Treffen eingeladen war.


Wie wehrt man sich nun dagegen? Zunächst ist es wichtig zu erkennen, dass andere mehr Information haben und deshalb kompetenter wirken und eventuell sachdienlichere Entscheidungen treffen können. Dieses Ungleichgewicht sollte so weit es geht beseitigt werden. Die Doktorantinnengruppe, die ich in den beiden anderen Beiträgen schon erwähnt habe, formuliert das so schön mit der Forderung "Karten auf den Tisch!".Ein anderer Rat ist zu versuchen, Informationen auf eigene Hand einzuholen.


4. Wie man es macht, es ist verkehrt

Ein Klassiker ist die Beruftätigkeit von Müttern: Gehen sie arbeiten, dann wir ihnen vorgeworfen, sie würden ihre Familie vernachlässigen, bleiben sie daheim, dann kriegen sie die Story von der mangelnden Selbsverwirklichung zu hören. Darüber hinaus gilt es in Schweden als egoistisch, wenn ein Partner nichts zum Unterhalt der Familie beiträgt.

Es ist egal welche Entscheidung man trifft - sie ist auf jeden Fall falsch. Diese Strategie funktioniert auch wunderbar bei Leuten mit Behinderung: Melden sie sich zu Wort und fordern ihre Rechte ein, dann fallen sie unangenehm auf, gelten als vorlaut, undankbar, rücksichtslos und egoistisch. Lassen sie es bleiben, und finden sich mit der Situation ab, wie sie ist, dann sind sie passiv und selber schuld, dass ihr Leben nicht anders aussieht und sich gesellschaftlich nichts verändert.

Diese Herrschaftstechnik dient, wie die anderen auch, der Verunsicherung und es ist nicht einfach aus diesem Zirkel herauszukommen. Wem die Meinung seiner Mitmenschen sehr am Herzen liegt, hat fast keine Chance auszubrechen. Denn ein gewisses Mass an "Wurstigkeit" (ist mir doch wurst, was andere über mich denken) ist hierfür wohl notwendig und eine Portion Selbstbewusstsein. Die Doktorantinnen raten dazu, Verständnis für diejenigen zu zeigen, die einem Vorwürfe machen und gleichzeitig Respekt für die eigene Entscheidung einfordern. Dazwischen kann es helfen, sich selber immer wieder zu sagen: Ich weiss, was ich tue! Und ich weiss, warum ich es mache! Voraussetzung hierfür ist natürlich, dass man das auch wirklich weiss oder zumindest eine ungefähre Ahnung hat.


5. Beschuldigen und beschämen

Diese Strategie läuft darauf hinaus, dass sich jemand dafür schämen soll, wie er ist oder einer Person die schuld daran gegeben wird, wenn ihr etwas angetan wird. Es ist schwierig, diese Strategie klar einzugrenzen.

Wird jemand diskriminiert, dann wird gerne so getan als wäre die diskriminierte Person selber daran schuld: Eine Person mit Speichelfluss und Schwierigkeiten beim Kauen sollte Verständnis dafür haben, dass andere Menschen nicht so gerne mit ihr am selben Tisch oder im selben Raum essen möchten, weil sie den Anblick nicht appetitlich finden. Oder: Es ist der Rollstuhl, der es unmöglich macht, irgendwo reinzukommen, nicht die Stufen. Warum heute noch Gebäude mit Stufen und ohne Aufzug gebaut werden (dürfen), ist mir übrigens ein Rätsel. Würde jemand ein Schild mit der Aufschrift "Zutritt für Schwarze/Juden/Moslems verboten", wäre das (hoffentlich!) völlig unakzeptabel. Eine Treppe (ohne Alternative) vor einem Gebäude hat genau dieselbe Aussage für jemand mit Rollstuhl, nämlich "Du darfst hier nicht rein." Aber das nur am Rande.

Zurück zum Thema: Ein grosses Problem ist, dass die Schuld, die von aussen an einen herangetragen wird, leicht verinnerlicht wird und ich irgendwann selbst davon überzeugt bin, dass es an mir liegt, wenn manche Leute nicht gemeinsam mit mir essen möchten oder dass ich von so vielen Veranstaltungen und Möglichkeiten ausgeschlossen werde, wenn ich mit Rollstuhl unterwegs bin. Entsprechend schwierig, kann es sein, zu erkennen, dass man Herrschaftstechniken ausgesetzt wird. Ein Rat der Doktorantinnen ist es, zu intellektualisieren und zu versuchen, die Situation aus einer sachlichen Distanz zu betrachten.


Selbstverständlich gibt es für alle hier erwähnten Unterdrückungsstrategien noch viele andere Beispiele und die vorgeschlagenen Gegenstrategien sind keine Patentlösung, die immer und überall funktioniert. Der gesamte Beitrag ist mehr als Anregung zum Nachdenken gedacht - eine Aufmunterung, bewusst eigene Gegenstrategien zu entwickeln und auszuprobieren.


Ich wünsche allen, einschliesslich mir selbst, viel Erfolg dabei.

4 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Klartext ENThindert:
Lesenswerter Blog von Ronja - so richtig zum Weitersagen ;-)

Gruss und Dank vom Rhein

Bernhard Pfaff
Selbstbestimmtes Leben Schaffhausen
(GSL SH im Aufbau)

Ronja hat gesagt…

Vielen Dank für die freundlichen Worte! Es ist schön, solche Zeilen zu lesen!

Liebe Grüsse,
Ronja

madove hat gesagt…

Wow - danke, daß du Dir die Arbeit gemacht hast, das zusammenzufassen. Fand ich sehr nützlich - es ist, wie du schreibst: Man (frau...) ist diesen Technike häufig ausgesetzt, erkennt aber die Struktur nicht und wird dann tatsächlich geschwächt und verunsichert. Wenn man sie erkennt, kan man mit dem Gefühl besser umgehen, auch wenn man auf Anhieb noch nicht die richtige Reaktion parat hat. Und dann : Üben.
Danke!

Ronja hat gesagt…

Gern geschehen! Es freut mich riesig lesen zu dürfen, dass mein Blog jemand anderem weiterhilft!

Danke, dass Du Dir die Mühe gemacht hast, einen Kommentar zu schreiben, noch dazu einen so netten!